Publikationen
Rezension

Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen

Campus, Frankfurt 2010; ISBN 978-3-593-39233-2, 267 S., 20,50 Euro.

Die niederländische Autorin beschreibt in dem Buch „Die Mitleidsindustrie“ ein doppeltes Dilemma: Humanitäre Hilfe verlängert in Kriegs- und Konfliktregionen oft das Leiden der Opfer, weil es auch den Kriegstreibern zugute kommt oder von diesen sogar gezielt strategisch ausgenutzt wird. Gleichzeit verhindern der Wettbewerb der Hilfsorganisationen und deren Profitabsichten nicht nur eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den negativen Folgen des eigenen Engagements, sondern auch eine Abstimmung unter den Organisationen für ein gemeinsames Vorgehen, um den behaupteten Neutralitätsanspruch abzusichern – oder ihn gemeinsam und begründet aufzugeben. Nachvollziehbar und gleichzeitig für den Leser schockierend entfaltet die Autorin diese beiden Dilemmata durch ihre dargestellten Reise- und Rechercheerfahrungen, die von der Großen-Seen-Region über Sierra Leone, Liberia, Äthiopien und Darfur bis nach Afghanistan reichen. An dieser Stelle wird die Lektüre auch zu einem Kaleidoskop von Korruptionsformen, die sich mit der humanitären Hilfe verbinden. Die sich wiederholende Darstellung des Fehlverhaltens von einzelnen Akteuren und Organisationen ist zutreffend, bleibt in ihrer beschreibenden Form aber eine tiefere Analyse schuldig und ist zu undifferenziert. Sie unterscheidet bei geschätzten 37.000 Organisationen der humanitären Hilfe, die ein Jahresspendenaufkommen von annähernd 120 Milliarden Dollar umsetzen, weder zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, noch differenziert sie ausreichend zwischen den sehr unterschiedlichen Arbeitsansätzen, aus denen heraus die Hilfe geleistet wird. Während die Autorin ihr Buch mit der Aufforderung beschließt, Spender, Medien und die Öffentlichkeit müssten humanitäre Organisationen durch gezieltes Nachfragen unter Druck setzen, ignoriert sie die längst im Gang befindlichen Reflexionen innerhalb der Hilfsorganiationen. Das Buch ist über die Fachkreise hinaus lesenswert für alle, die einen Blick hinter die Kulissen der humanitären Hilfe werfen möchten. Die berechtigte Kritik weist aber noch keinen Lösungsweg dafür, wie die Dilemmata von möglichem Missbrauch der Hilfe gelöst werden können und welche Kriterien zum Zuge kommen, wenn sich die humanitäre Hilfe allen Ernstes vom Neutralitätsprinzip verabschieden würde.

Sonja Grolig

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