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Rezension

Rügemer, Werner: "Ratingagenturen. Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart"

Bielefeld: transcript Verlag 2012, ISBN 978-3-8376-1977-5, 200 Seiten. 18,80 Euro

Beim Lesen des Buches wird schnell klar, dass der Autor, der als Journalist und Berater tätig ist, auf Grauzonen wenig Wert legt und sehr klare Positionen bevorzugt. Anfangs war ich daher eher skeptisch, ob er die für mich wichtigsten Fragen befriedigend beantworten würde: Wer sind die Ratingagenturen, wie arbeiten sie und wie ist ihre Arbeit zu beurteilen? Das Buch befasst sich mit Standard & Poor, Moody‘s und Fitch, die drei größten Ratingagenturen, die zusammen über 95 Prozent des Weltmarkts ihrer Branche abdecken. Werner Rügemer zeigt, dass in großem Maße wichtige Finanzakteure zumindest indirekt Eigentümer dieser Agenturen sind. Interessant ist, dass diejenigen für das Rating bezahlen, für die es angefertigt wird (vorwiegend Emittenten von Finanzprodukten). Eigentlich sollte das Rating dem Investor die Risikoeinschätzung ermöglichen. Zusätzlich problematisch wird es dadurch, dass die Agenturen auch andere Dienstleistungen wie Beratung zum Risikomanagement und Marktanalysen verkaufen. Dann ist natürlich die Frage erlaubt: Wird das Produkt eines guten Beratungskunden schlecht bewertet? Die Agenturen weigern sich, ihre Verfahren zur Erstellung der Ratings offen zu legen, was von der Börsenaufsicht in den USA und bisher auch von Gerichten akzeptiert wurde. Damit seien die Agenturen de facto von einer Haftung für ihre Ratings befreit. Laut Werner Rügemer sind Ratings demnach keine objektiven Bewertungen, sondern einseitige, strategiebedingte Instrumente mächtiger Finanzakteure. Was verleiht den Agenturen ihre Macht? Sie erfüllen ohne Zweifel ein Bedürfnis, Arbeit (und meines Erachtens auch Verantwortung) zu delegieren. Im Laufe der Zeit haben Ratings dann auch Einzug in (gesetzliche) Regelwerke gehalten. Zum Beispiel darf die Europäische Zentralbank EZB nur Sicherheiten mit einem Mindestrating akzeptieren. De facto erfüllen diese privaten Unternehmen fast schon hoheitliche Aufgaben ohne eine angemessene Regulierung. Seit Ende des letzten Jahrhunderts werden auch Staaten und Kommunen bewertet. Hieran hat sich im Verlauf der Eurokrise ein Konflikt entzündet, weil schlechtere Ratings als „self fulfilling prophecy“ zu höheren Zinsen führen und damit die Schuldenkrise verschärfen. Werner Rügemer zufolge betreiben die Agenturen hier neoliberale Politik im Interesse ihrer Eigentümer. Aus Sicht des Autors bestehen erhebliche Interessenkonflikte bei der Arbeit der Ratingagenturen. Der Autor plädiert für die Rücknahme ihrer quasi-gesetzlichen Funktion und mahnt das Prinzip der persönlichen Verantwortung an. Diese Auffassung teile ich uneingeschränkt; angesichts der immensen Bedeutung von Ratings ist aber auch ein allgemein akzeptierter und gerichtlich überprüfbarer Vorgehensstandard wie in der Wirtschaftsprüfung überfällig. Das Buch ist informativ und lesbar geschrieben. Es beantwortet umfassend die anfangs gestellten Fragen, allerdings hat sich angesichts fehlender Graustufen bei der Beurteilung bei mir ein Misstrauen eingestellt, ob alle Aussagen so vertrauenswürdig sind. Das ist schade. Insgesamt eine lohnende Lektüre, auch wenn oder gerade weil man sich möglicherweise hin und wieder über den Autor ärgert.

Stefan Calvi

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