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„Wir sind mit dem Versprechen und dem Anspruch angetreten, ein „Game Changer“ im Kampf gegen Betrug und Korruption zu sein“

02.05.2024 – Im Interview spricht der stellvertretende Europäische Generalstaatsanwalt Andrés Ritter darüber, wie die Europäische Staatsanwaltschaft (EUSta) funktioniert, was sie in den ersten bald drei Jahren gelernt hat und was sie bräuchte, um noch effektiver arbeiten zu können.

© EPPO

Dieser Text ist ursprünglich in einer leicht gekürzten Form im Scheinwerfer 102 zum Schwerpunktthema Europawahl 2024 erschienen.

Fragen: Adrian Nennich


Die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) hat am 1. Juni 2021 ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll das Geld der europäischen Steuerzahler bei Straftaten wie Geldwäsche, Korruption und grenzüberschreitendem Mehrwertsteuerbetrug besser schützen.

Die Einführung der EUStA war eine historische Errungenschaft. Was war neu an ihrem Ansatz?

Die EUStA stellt tatsächlich einen Meilenstein in der grenzüberschreitenden Integration der Strafverfolgung dar. Sie ist die erste supranationale Staatsanwaltschaft weltweit, das heißt eine Staatsanwaltschaft, die unmittelbar aus einer einheitlichen Behörde heraus selbst in den 22 daran teilnehmenden Mitgliedsstaaten der Europäischen Union „grenzenlos“ ohne die Notwendigkeit von Ersuchen an Behörden in einem anderen Mitgliedstaat agieren kann.

Sie ist zugleich die mit voller Unabhängigkeit versehene Staatsanwaltschaft der EU mit einer Spezialzuständigkeit für Betrugs- und Korruptionsstraftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union. Darunter fallen sowohl Ausgabenbetrug, wie etwa der Betrug bei Agrar- oder sonstigen Subventionen oder die Fälle manipulierter Ausschreibungen hinsichtlich öffentlicher Aufträge, die nicht selten mit Straftaten der Bestechung von Amtsträgern verbunden sein können. Darüber hinaus ist die EUStA für die Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug ab einer Höhe der hinterzogenen Steuer von über 10 Millionen Euro im jeweiligen Fall zuständig sowie insgesamt auch für Straftaten der Geldwäsche oder der organisierten Kriminalität, wenn sie mit den vorgenannten Straftaten des Betrugs und der Korruption verbunden sind. Ihre Aufgabe ist der Schutz des Haushalts der Europäischen Union gegen kriminelles Handeln, d.h. letztlich der Schutz aller europäischer Steuerzahler.

Wie funktioniert das in der Praxis?

Die EUStA hat eine besondere Struktur mit einer zentralen Ebene in Luxemburg, in der eine eigenständige Kriminalpolitik formuliert, strategische Entscheidungen getroffen und die Verfahren beaufsichtigt und unterstützt werden, die in den 22 Mitgliedstaaten geführt werden.  Die Verfahren selbst werden von sog. Europäischen Delegierten Staatsanwälten (EDPs) angeleitet, die in den Mitgliedstaaten angesiedelt und in den jeweiligen Strafrechtssystemen eingebettet sind. Sie haben dieselben Befugnisse und Stellung wie nationale Staatsanwälte, sind aber von jeder nationalen Behörde unabhängig und unterliegen keinerlei nationalen Weisungen. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Soweit die Zuständigkeit der EUStA gegeben ist, dürfen nunmehr nur die EDPs die Ermittlungen anleiten und ggfs. vor Gericht bringen. Das tun sie aus der einheitlichen Behörde heraus in einer für ganz Europa kohärenten und zielgerichteten Weise.

Neu in dem Ansatz der EUStA ist daher insbesondere die in verschiedener Weise abgesicherte, ausschließlich dem Schutz vor Betrug und Korruption verpflichtete Unabhängigkeit gegenüber jeder nationalen Behörde, aus der eine besondere Garantie für eine von jeder sachwidrigen Einflussnahme befreite Strafverfolgung erwächst.

Ebenfalls neu und operativ ebenso bedeutsam ist die Möglichkeit, Beweismittel sehr viel schneller grenzübergreifend zu sammeln und zusammenzuführen, um so einen bislang in dieser Form nicht möglichen Überblick über das tatsächliche Ausmaß und Verstrickungen kriminellen Handelns zu erlangen. Solche Einblicke und Erkenntnisse über kriminelle Verbindungen sind allein auf nationaler Ebene schlichtweg nicht zu erlangen.

Wie arbeitet die EUStA mit den nationalen Strafverfolgungsbehörden zusammen? Was funktioniert gut und wo gibt es Herausforderungen?

Die Zusammenarbeit mit den nationalen Ermittlungsbehörden gestaltet sich im Prinzip nicht anders als die Zusammenarbeit mit einer nationalen Staatsanwaltschaft. Wie bereits ausgeführt, haben die ermittlungsführenden europäischen Staatsanwälte dieselben Befugnisse und Rechte und können Ermittlungsaufträge an Polizei-, Zoll- oder Steuerbehörden richten. Naturgemäß ist diese Zusammenarbeit umso effizienter und nachhaltiger, je stärker die Ermittlungen in die Arbeit der Staatsanwaltschaft integriert sind.

Mit integrierten Ermittlungen meine ich zweierlei: Zum einen sollte Integration bedeuten, dass Ermittlungskräfte strukturell und dauerhaft für die Arbeit der EUStA eingebunden sind bzw. werden können. In einzelnen Mitgliedstaaten sind Ermittlungskräfte tatsächlich direkt der EUStA zugeordnet, d.h. EDPs erhalten Unterstützung von auf Dauer mit ihnen – teilweise im selben Gebäude – arbeitenden Polizeibeamten oder Steuerfahndern, womit nicht nur eine besonders reibungslose Zusammenarbeit gesichert, sondern auch ein wachsender Erfahrungsschatz bei der Führung sehr komplexer Ermittlungen aufgebaut werden kann. Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass andere Modelle als diese unmittelbare Zuordnung die notwendige enge Anbindung gewährleisten können, sofern jedoch gesichert ist, dass insbesondere qualifizierte und erfahrene Ermittler auf Anforderung die EDPs in den Einzel-fällen unterstützen, sich so best-practices entwickeln und weitergegeben werden können.  

Zum anderen wäre zumindest in Deutschland sehr häufig eine höhere Integration/Vernetzung der nationalen Ermittlungskräfte untereinander notwendig. In den ausgesprochen komplexen Fällen des Zoll- und Steuerbetrugs der EUStA ist eine enge Zusammenarbeit von Zollfahnder, Steuerfahnder und Polizeikräfte untereinander maßgeblich für eine schnelle und erfolgreiche Aufklärung und Ahndung der schweren Straftaten ebenso wie für Maßnahmen der Abschöpfung des kriminell erlangten Vermögens und ihre spätere Einziehung. Die Ermittler aus den unterschiedlichen Bereichen bringen jeweils ihre sich ergänzenden besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten ein. Es liegt auf der Hand, dass selbst speziell im Wirtschaftsstraf-recht geschulte Polizeibeamte keine Spezialisten im Steuerrecht sind und Steuerfahnder in aller Regel keine Telefonüberwachungen oder Observationen durchführen können, während sie alle zugleich auf die besonderen Kenntnisse und operativen Erfahrungen von Zollfahndern angewiesen sein können.

Die besondere Herausforderung besteht also darin, nationale Strukturen bereitzuhalten oder neue Strukturen zu schaffen, in denen die Vorteile der EUStA als grenzüberschreitend aufgestellte Staatsanwaltschaft vollauf realisiert und tatsächlich zum Tragen kommen. Für die verfahrensleitenden EDPs bedeutet es häufiger eine große Herausforderung, in jedem einzelnen Verfahren Ermittlungskräfte zur Bildung eines Ermittlungsteams gewinnen und zur Zusammenarbeit anleiten zu müssen, anstatt auf bestehende, bewährte gemeinsame Ermittlungsteams zurückgreifen zu können.

Was sind die bisher größten Erfolge der EUStA bei der Korruptionsbekämpfung?

Nach meinem Dafürhalten ist einer der größten Erfolge der EUStA, welches Vertrauen ihr von den Bürgerinnen und Bürgern gerade in solchen Mitgliedstaaten der EU entgegengebracht wird, in denen die Wahrnehmung der Korruption, etwa nach dem Ranking von Transparency International, sehr hoch ist.

So erhalten wir über unsere Webseite eine weiter stark steigende Anzahl von Strafanzeigen von Privatpersonen. Im Jahr 2023 sind sie um rund 30 % auf insgesamt 2.492 Strafanzeigen angestiegen. Sie werden bei der EUStA danach geprüft, ob nach dem mitgeteilten Sachverhalt die Zuständigkeit der EUStA gegeben ist, um bejahendenfalls ein Verfahren einzuleiten. Die Anzahl der darauf eingeleiteten Verfahren ist im Jahre 2023 sogar um 58 % gestiegen, was zugleich die steigende Relevanz dieser Anzeigen belegt. Dabei erhalten wir besonders viele Strafanzeigen aus jenen Mitgliedstaaten, in denen die Wahrnehmung der Korruption hoch ist. Das ist ein motivierendes Zeichen und Ausweis eines Vertrauens in der Bevölkerung in unsere Unabhängigkeit. Dem fühlen wir uns uneingeschränkt verpflichtet.

Ohne die Anzahl der Korruptionsverfahren in den jeweiligen Mitgliedstaaten an dieser Stelle differenzieren zu wollen – die Angaben sind in unserem gerade veröffentlichten Jahresbericht 2023 enthalten – möchte ich dennoch die Tätigkeit der EUStA-Kollegen in Kroatien hervorheben, die ohne Ansehen der Person in einer Vielzahl von Fällen dem Verdacht der Korruption auch gegen hohe Amtsträger mutig und konsequent nachgehen, worauf von amtlicher Seite die Tätigkeit der EUStA und deren Notwendigkeit öffentlich in Frage gestellt wird. Solchen in keiner Weise nachvollziehbaren Äußerungen tritt die EPPO, wie zuletzt Frau Generalstaatsanwältin Kövesi, deutlich entgegen.  

Was hat die EUStA bei ihrer Arbeit in den ersten rund zweieinhalb Jahren gelernt?

Wie sie sich vorstellen können, lernt man bei der Errichtung einer Institution, für die es keinerlei Blaupause oder Vorgängerin gibt, sehr viel. Die Europäische Staatsanwaltschaft hat zwar von der Idee aus akademischen Kreisen bis zur Verwirklichung in der Mitwirkung von Europäischer Kommission, Parlament und Rat annähernd 30 Jahre gebraucht, aber die Geschwindigkeit, mit der sie sich insbesondere seit dem operativen Beginn am 1. Juni 2021 entwickelt hat, zeigt meines Erachtens, wie stark Europa sein kann, wenn es Kräfte bündelt und unter einer an sich naheliegenden Idee, gemeinsame Interessen gemeinsam zu verteidigen, zusammenführt.

Zusammen mit einer Gruppe hoch motivierter und von dieser gemeinsamen Idee überzeugten Kollegen haben wir das Privileg, an deren Realisierung und Fortentwicklung zu arbeiten und haben uns dem Kampf gegen Betrug und Korruption verschrieben.

In diesem Zusammenhang stellen wir sowohl in unserer Errichtungsverordnung als auch etwa in der mitgliedsstaatlichen Umsetzung europäischer Normen Hindernisse fest, die unsere Arbeit erschweren und dem Errichtungszweck zuwiderlaufen, aber – positiv gesehen – würden diese Hindernisse ohne die Errichtung der EUStA kaum wirklich erfasst werden. Aus unserer Tätigkeit in den 22 Mitgliedstaaten können wir sie benennen, mit Beispielen belegen, in ihren Auswirkungen beschreiben und z.B. die Europäische Kommission darauf hinweisen. So können wir aber auch deutliche Unterschiede im Aufdeckungsgrad von Straftaten zwischen den Mitgliedstaaten feststellen, nach den Ursachen suchen und maßgeblich dazu beitragen, dass das Bewusstsein für die Erfordernis einer nachhaltigen Bekämpfung von Straftaten mit einem hohem wirtschaftlichen – und sozialen – Schaden in allen Staaten steigt.

Ermutigend ist in diesem Zusammenhang der bereits im Jahre 2023 festzustellende erhebliche Anstieg der zur Verfahrenseinleitung führenden Strafanzeigen von nationalen Behörden um annähernd 60 %.

Wir sind mit dem Versprechen und dem Anspruch angetreten, ein „Game Changer“ im Kampf gegen Betrug und Korruption zu sein, und empfinden es als zusätzlichen Ansporn, immer weiter diesem Anspruch gerecht zu werden.     

Wie viele und welche Art von Fällen hat EUStA in Bezug auf Deutschland bereits untersucht?

Seit dem operativen Beginn bis zum 1. März 2024 sind bei der EUStA aus Deutschland insgesamt 258 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, wobei der Schwerpunkt bei Fällen des Mehrwertsteuerbetrugs mit einem Anteil von rund zwei Dritteln liegt. Im Jahr 2023 sind 123 neue Fälle eingetragen worden (+55%), womit die Anzahl der laufenden Fälle aus Deutschland Ende 2023 bei 176 Fällen (+58%) mit einem geschätzten Schaden von 2,8 Milliarden Euro lag. Der Schaden bei den Ende 2023 laufenden 112 Mehrwertsteuerbetrugsverfahren betrug 2,44 Milliarden Euro. Bemerkenswert ist die Höhe der in den laufenden Verfahren zur eventuellen späteren Einziehung vorläufig gesicherten Werte in Höhe von 385,7 Millionen Euro. Für die EUStA insgesamt liegt dieser Wert im Übrigen bei 1,5 Milliarden Euro.

Um einen solchen Fall des Steuerbetrugs handelt es sich bei dem Verfahren mit dem Codenamen „Huracán“. Dort ist gerade eine erste Anklage gegen fünf Personen wegen Mehrwertsteuerbetrugs erhoben worden, wobei die Mitglieder der organisierten Verbrecherbande des betrügerischen Handelns mit mehr als 10.000 Autos verdächtigt werden. Zwischen 2017 und Juni 2023 erzielten sie einen betrügerischen Gesamtumsatz von mehr als 190 Millionen Euro. Die Fahrzeuge sind unter Vorspiegelung steuerfreier innergemeinschaftlicher Lieferungen veräußert worden, wobei ein Mehrwertsteuerschaden von 53,7 Millionen Euro verursacht worden ist. Die fünf Hauptverdächtigen wurden am 14. Juni 2023 im Rahmen einer Aktion mit mehr als 450 Durchsuchungen in sieben Ländern (Belgien, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Portugal und Spanien) festgenommen. Im Angesicht der umfassend erlangten Beweise haben vier der fünf Verdächtigen die Taten entweder vollumfänglich oder weitestgehend gestanden. Insgesamt werden mehr als 60 Personen verdächtigt, an der organisierten Gruppe beteiligt gewesen zu sein oder die Hauptverdächtigen, die jetzt angeklagt wurden, unterstützt zu haben. Etwa 90 der 130 Autos, die im Juni 2023 beschlagnahmt wurden, sind bereits verkauft worden, um den finanziellen Schaden wiedergutzumachen. Zu den weiteren beschlagnahmten Gütern gehören Immobilien und 2 Millionen Euro in bar.   

In dem ebenso kürzlich stattgefundenen „Action-Day“ in dem aus Deutschland geführten Ermittlungskomplex mit dem Namen „Midas“ geht es um den Verdacht des Mehrwertsteuerbetrugs aus dem Handel mit Smartphones, Airpods und medizinischen Schutzmasken mit einem geschätzten Schaden von 195 Millionen Euro. Dort sind am gleichen Tag mehr als 180 Durchsuchungen und 14 Festnahmen in insgesamt 17 Staaten der EU sowie in Albanien und im Vereinigten Königreich erfolgt. An die 700 Ermittler aus Steuerfahndung und Polizei sind an den Maßnahmen beteiligt gewesen. Es wurden eine große Menge Smartphones, eine Yacht, Luxuswagen, Schmuck und Uhren, Bargeld, Cryptowährungen sowie 2,5 kg Gold im Wert von geschätzt insgesamt 25 Millionen Euro sichergestellt.

Die bei der EUStA geführten Verfahren richten sich letztlich häufig gegen organisiert agierende kriminelle Gruppen, die z.B. unter Missbrauch des Mehrwertsteuersystems hohe Profite erzielen, die auch für weitere kriminelle bzw. korruptive Aktivitäten zur Verfügung stehen.

In einem bei Gericht bereits abgeschlossenen Fall – als Beispiel eines Zollbetrugs - sind drei Beschuldigte wegen Einfuhrschmuggels von Luxusautos und organisierter Steuerhinterziehung zu Freiheitsstrafen von bis zu 3 Jahren und 6 Monate bei einem Schaden von über 3,5 Millionen Euro verurteilt worden. Dabei haben die Beschuldigten Luxusfahrzeuge aus Drittstaaten in Asien und Nordamerika erworben und unter Vorlage gefälschter Zolldokumente praktisch fast ohne Entrichtung von Zollabgaben und Einfuhrumsatzsteuer über Estland und den Niederlanden in die EU eingeführt und in Deutschland in den Verkehr gebracht. Insbesondere Fahrzeuge und andere Werte in Höhe von insgesamt mehr als 1,5 Millionen Euro sind zur Verwertung sichergestellt worden und es wurde zudem im Urteil gegen einen der Angeklagten eine Beschlagnahmeanordnung in Höhe von fast 2,3 Millionen gegen die von ihm geleitete Firma erlassen.

Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die Fälle des Ausgabenbetrugs aus Deutschland immerhin an 10 % des Fallaufkommens heranreichen.  Aus den Erfahrungen aus anderen Mitgliedstaaten muss auch davon ausgegangen werden, dass auch neue EU-Finanzierungsquellen im Visier der Betrüger sind.

Bis Ende 2023 waren bei der EUStA über 200 aktive Untersuchungen im Zusammenhang mit den ersten NextGenerationEU-Finanzierungsprojekten mit einem geschätzten Schaden von über 1,8 Milliarden Euro anhängig. Dies entspricht bereits etwa 15 % aller Fälle von Ausgabenbetrug mit EU-Mitteln, gemessen am geschätzten Schaden sind es jedoch vielmehr fast 25 %. Diese Zahl kann im Zusammenhang mit der beschleunigten Umsetzung der NextGenerationEU-Finanzierung nur noch steigen. Auch hier wird immer deutlicher, wie attraktiv der Betrug zum Nachteil der EU für kriminelle Organisationen ist.  

Wo würden Sie mehr Unterstützung oder weitere Instrumente benötigen, um ihre Arbeit noch effektiver machen zu können?

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die aus Sicht der EUStA sachgerechten legislativen Änderungen an der Errichtungsverordnung, der sog. PIF-Richtlinie und des der EUStA vorgegebenen administrativen Rahmens im Einzelnen auszuführen. Ein dringender Bedarf dazu wird seitens der scheidenden Europäischen Kommission bislang nicht gesehen.

Operativ bedingt die große Anzahl hochkomplexer Verfahren eine sehr hohe Arbeitsbelastung insbesondere der ermittlungsführenden Staatsanwälte, die eine optimierte operative Unterstützung durch und Vernetzung bei den nationalen Ermittlungskräften erforderlich macht. Soweit als möglich, wird zwar eine sehr wertvolle Unterstützung durch Fall- und Finanzanalysten aus der Zentrale in Luxemburg geleistet, was jedoch angesichts der weiter zunehmenden Auswertungs- und Koordinierungsaufgaben zunehmend an ihre Grenzen stößt.

Auf europäischer Ebene hängt der notwendige Ausbau der zentralen Unterstützungs-kapazitäten, von einer Erhöhung des EUStA-Haushalts und der zugebilligten Stellen vom Haushaltsgesetzgeber, namentlich Kommission, Rat und Parlament ab. Dies wäre insbesondere mit Blick auf den bevorstehenden Beitritt der Republik Polen und Schwedens zur EUStA dringend erforderlich.

Vor kurzem hat daher die EUStA einen Nachtragshaushalt auf zusätzliche Mittel in Höhe von 7 Millionen Euro auf rund 79 Millionen Euro beantragt. Diese Mittel sollen auch dazu verwandt werden, die digitale Funktionsfähigkeit der EUStA langfristig zu sichern und zum Beispiel verstärkt elektronische Analysetools einzusetzen. Nach meinem Dafürhalten und angesichts der von der EUStA allein im Jahr 2023 gesicherten Vermögenswerte in Höhe von 1,5 Milliarden Euro könnte es durchaus als eine „rentable“ Investition in die Zukunft gesehen werden.

In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass wir den Beitritt der Republik Polen zur EUStA zur Sicherung der Rechtstaatlichkeit in Europa und des Kampfs gegen Korruption sehr begrüßen, indes zusätzliche Mittel und Personal notwendig sein werden, um die voraussehbare, erhebliche zusätzliche Arbeitsbelastung zu bewältigen. Nach den Schätzungen der neuen polnischen Regierung sind mit mehreren hundert Fällen jährlich aus Polen zu rechnen, denen sich die EUStA in gleicher Tatkraft – und Erfolg – wie bisher annehmen will.

Haben Sie spezifische Wünsche an die deutsche Regierung oder Strafverfolgung?

Bezogen auf Deutschland hat die Europäische Generalstaatsanwältin in einem Interview ausgeführt, dass „Deutschland für Betrüger attraktiv ist“. Sie hat auf die Größe der Volkswirtschaft hingewiesen und auf die vielen Unternehmen, die es leicht machen würden, Dinge zu verstecken.

So gut wie alle deutschen Mehrwertsteuer-Fälle haben tatsächlich einen Bezug zu anderen Ländern, denn für den Geld- oder Warentransfer in andere Teile Europas werden oft deutsche Firmen eingesetzt. Die Fallzahlen zeugen zwar von einer grundsätzlich guten lokalen Aufdeckungsquote, die weitere Aufklärung sollte aber nicht an Ländergrenzen scheitern, die nun mit der EUStA überwunden werden können, und erst recht nicht an den Grenzen zwischen den Bundesländern. Soweit Generalstaatsanwältin Kövesi ausgeführt hat, dass „deutsche Finanzbehörden unseren Kollegen nicht ausreichend helfen“, ist tatsächlich die Gefahr benannt, dass Ermittlungen auf den jeweiligen Zuständigkeitsbereich beschränkt werden. Erst recht ist es nicht nachvollziehbar, wenn der Grund dafür der Ressourcenmangel bei den Steuerfahndungen ist.   

Wird nämlich das gesamte kriminelle Geschehen nicht erfasst und aufgeklärt, werden sehr wahrscheinlich lediglich einfach austauschbare Personen oder Gesellschaften in die Ermittlungen einbezogen und einer Bestrafung zugeführt, ohne dass die kriminellen Netzwerke selbst aufgedeckt und zerschlagen werden. Das stellt nicht nur ein erhebliches Problem wegen der entgangenen Mehrwertsteuereinnahmen dar, sondern auch und insbesondere im Hinblick auf den möglichen Einfluss und zunehmende wirtschaftliche Macht krimineller Organisationen. Ist man zudem nicht bei der Abschöpfung kriminell erlangten Vermögens erfolgreich, fehlt ein wesentliches Abschreckungselement.

Abschreckung kann nicht funktionieren, wenn eine kriminelle Organisation mit vergleichsweise geringem Entdeckungsrisiko Betrug an EU-Mitteln und Mehrwertsteuer begehen und selbst im Falle der Entdeckung einen Großteil des Profits behalten kann, weil eine nachdrückliche Strafverfolgung und Vermögensabschöpfung fehlen.

Aus der Erfahrung und Sicht der EUStA sind daher alle Reformpläne zu begrüßen, zu dem „integrierten Ansatz“ oder zumindest einer größeren Vernetzung zu gelangen, sei es die Bundesbehörde zur Bekämpfung der Finanzkriminalität, die Errichtung des Landesfinanzkriminalamtes in Nordrhein-Westfalen oder eine operative Aufwertung des zur Koordination der Verfahren grundsätzlich zuständigen Bundeszentralamtes für Steuern. Das Ausmaß des Mehrwertsteuerbetrugs und deren Gefahren für den Rechtsstaat wurde und wird nach meinem Dafürhalten unterschätzt.   

Vielen Dank für das Gespräch.


Zur Person

Der Jurist Andrés Ritter war ab dem Jahr 1995 bei verschiedenen Staatsanwaltschaften tätig. Im Jahr 2008 wurde er stellvertretender Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern. Ab 2013 war er als Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Rostock insbesondere mit Wirtschaftsverbrechen und Cyberkriminalität befasst. Im Jahr 2020 wurde Ritter zum stellvertretenden Europäischen Generalstaatsanwalt ernannt.

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